Sueddeutsche Zeitung, SZ, vom 05.02.1994, S. 34

Wirtschaft

DYNASTIEN, AUSSENSEITER, NEWCOMER: KARL HINTZEN

Hoflieferant fuer alle naerrischen Herrscherhaeuser
Ein Familienbetrieb aus Korschenbroich schneidert seit ueber 110 Jahren
Prinzenkostueme und Uniformen

(SZ) Die tollen Tage sind mehr als nur ein ausgelassenes Fest. Karneval ist – zumindest in den Hochburgen des Frohsinns – ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. In Koeln beispielsweise werden mit dem naerrischen Treiben nach Schaetzung des oertlichen Festkomitees rund 500 Millionen DM umgesetzt – fuer den Eintritt zu Baellen und Sitzungen, fuer Bier und Sekt, fuer Kuenstlerhonorare, Uebernachtungen, Taxifahrten oder den Zug, der 1993 mehr als vier Millionen DM verschlungen hat. Besonders tief greifen die Jecken ins Portemonnaie, um den Alltagsdress gegen eine neue Identitaet zu tauschen: Hofnarr statt Handwerker, Tanzmariechen statt Telephonistin. Rund 60 Millionen DM, so heisst es, geben die Koelner fuer Kostueme und Friseurbesuche in der ‚fuenften Jahreszeit‘ aus. Sehr zur Freude der Karl Hintzen KG aus Korschenbroich, die seit 110 Jahren gute Geschaefte mit Kostuemen und Uniformen macht. Bei mehr als 100 Prinzenpaaren in ganz Deutschland nehmen die Schneider vom Niederrhein in jeder Session Mass.
VON STEFAN WEBER
Individualitaet hat selbstverstaendlich ihren Preis. Da muss der eitle Prinz, der sich dem naerrischen Volk nicht im Standarddress seiner Zunft (Wams, Mantel, Baenderhose, lange Prinzenhose in reiner Schurwolle mit breiter Goldtresse, Helanca-Strumpfhose ohne Naht, Prinzenzepter aus Messing mit farbigen Baendern – macht 3387,50 DM) zeigen moechte, ein paar zusaetzliche Scheine lockermachen. Rasch kann der Rechnungsbetrag dann einmal auf 12 000 DM klettern, wie im vergangenen Jahr, als der Prinz aus Berlin die Kostuemschneider an die Spree bemueht hatte. Kein Narrenherrscher hatte bis dato einen aufwendigeren Dienstdress gewuenscht. Aber in der Hauptstadt muss man eben etwas hermachen. Denn, man stelle sich vor: Der Narrenherrscher der Millionenstadt im gleichen 3387,50 DM-Kostuem wie der Prinz in Koeln-Nippes! Ihre Lieblichkeit, die Prinzessin, kommt bei der Einkleidung ausnahmsweise etwas preiswerter davon als ihr Begleiter: Schon fuer 1943 DM erhaelt sie ihr ‚historisches Kostuem, zum Prinzen passend‘. Der Phantasie sind freilich Grenzen gesetzt. Meist sollen sich die Farben der Stadt in der Narrenzunft widerspiegeln, und die Tradition verbietet es, allzu ausgefallene Kreationen schneidern zu lassen.

Geknausert wird nicht Prinzen mit schmalem Geldbeutel, so erzaehlt Thomas Hintzen (34), der zusammen mit seinem Vater Karlheinz (73) und Cousin Helmut (37) die Geschaefte fuehrt, fragen auch schon einmal verschaemt, ob denn das Narrengewand nicht zu mieten sei. Ist es – fuer 450 bis 800 DM, vorausgesetzt, es handelt sich um ein Stueck aus zweiter Hand. Fuer ungetragene Kostueme berechnet Hintzen 70 Prozent des Neupreises. Es lohnt sich also kaum, das edle Teil auf Leasing-Basis zu ordern. Der Trend, so beobachten die Narren-Schneider aus dem Rheinland, gehe ohnehin eindeutig zum Kauf.

Und was dem Prinzen recht ist, ist seinem Gardeoffizier, dem Tanzmariechen oder dem Elferrat billig: Aufwendige, spaeter im Durchschnitt sieben Jahre getragene Kostueme werden in der Mehrzahl der Faelle gekauft. Daran aendert auch die Konjunkturflaute nichts. Denn im Karneval, so beobachtet Thomas Hintzen, drehen die Jecken die Mark keineswegs zweimal um, bevor sie sie auf den Kopf hauen. Nichtsdestotrotz gibt es knauserige Narren. Etwa jene Tanzgarde aus Karlsruhe, die kuerzlich ihre Kostueme nach 28 (!) Jahren in die Altkleider- Sammlung gab und in Korschenbroich einen neuen Dress bestellte.
Krisenzeiten hat das 1884 als Schneiderei gegruendete Unternehmen, das bereits um die Jahrhundertwende Laien-Spielgruppen ausgestattet hatte und erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Karneval in engen Kontakt gekommen ist, nicht erlebt. Mit einer Ausnahme – im Jahr 1992, als das naerrische Treiben infolge des Golfkriegs abgesagt worden war. Ein Drittel ihres Umsatzes von mehr als drei Millionen DM hat die Hintzen KG damals eingebuesst. Der Familienbetrieb zaehlt zu den fuehrenden Prinzen- und Gardekostuem-Schneidern in Deutschland. Seine Kunden kommen in erster Linie aus dem Rheinland, aber auch aus Hamburg, Berlin und Stuttgart. Narren aus den benachbarten Niederlanden oder Belgien ordern ihre Dienstkleidung fuer die ‚fuenfte Jahreszeit‘ ebenfalls haeufig in Korschenbroich. Die Kundenkartei beinhaltet selbst Adressen in den USA, in Australien und Suedafrika – Laender, in denen sich naerrische Auswanderer aus Deutschland muehen, den Frohsinn zu organisieren.

Längst ist der Karneval fuer die Hintzen KG kein Saisongeschaeft mehr fuer die zwei, drei Monate vor dem Rosenmontag. Schon der Ganzjahreseinsatz der Tanzgarden (Turniere usw.) sorgt fuer einen steten Auftragsfluss. Hinzu kommt, dass ein aufwendiges Kostuem vier Monate Lieferzeit besitzt. Der Kunde wird vermessen, nach dem ersten Zuschnitt erfolgt eine Zwischenprobe, und erst dann werden die letzten Faeden vernaeht. Zur Anprobe kommen die Hintzen-Mitarbeiter auch ins Haus – gegen Aufpreis versteht sich. Bereits heute sind bei dem Unternehmen Auftraege fuer die Session 1996 eingegangen. Mangel an Beschaeftigung ist deshalb kein Thema fuer die 31 Mitarbeiter.

Ueber eine Ausweitung des Betriebs hat die Familie haeufig diskutiert, mit dem Ergebnis, dass man sich entschlossen hat, lieber die Nische des anspruchsvollen Kostuem- und Uniformgeschaefts zu pflegen, statt Massenware zu vertreiben. Fuer den Wettstreit mit den Grossbetriebsformen des Einzelhandels, die grosse Stueckzahlen jeweils aktueller Kostueme in Billiglohnlaendern einkaufen, fuehlt sich die Karl Hintzen KG nicht fit genug. Aber auch im angestammten Segment bestehen Wachstumsgrenzen, weil das Unternehmen Muehe hat, versierte Schneider und Naeherinnen zu finden, die in der Lage sind, die kunstvollen Stuecke zu fertigen. Die handgefertigten Karnevalsmuetzen beispielsweise, von denen das Unternehmen zum Preis von 100 bis 800 DM knapp 1000 Stueck pro Session absetzt. Als Haendler betaetigt sich der Kostuemschneider lediglich bei Accessoires, wie Saebeln oder Degen aber auch Stiefeln fuer Tanzmariechen und Offiziere.
Etwa 60 Prozent des Umsatzes erwirtschaftet das Unternehmen mit dem Verkauf und Verleih von Karnevalsartikeln. Auftraege von Schuetzenbruderschaften und Musikkorps steuern den Rest bei. Ohne die Schuetzen, meint Hintzen, kommen wir nicht ueber den Sommer. Um die Gunst dieser Kunden buhlt das ‚Ausstattungshaus fuer alle Vereine‘ indes in Konkurrenz mit ‚jedem Schneider, der einen Schuetzenrock‘ zuschneiden kann. Mit Freude beobachtet Hintzen, dass die Schuetzen ihre Uniform heute sehr haeufig kaufen (Durchschnittspreis 500 DM), statt sie wie vor einigen Jahren ueblich lediglich fuer die Festtage auszuleihen (46 DM pro Wochenende).
Masken fuer Gastwirte
Vor kurzem hat das Familienunternehmen erste Fruechte einer noch jungen Partnerschaft mit einer Werbeagentur geerntet: Fuer eine niederrheinische Brauerei schneiderten die Mitarbeiter 8000 Domino- Federmasken – ein Geschenk fuer Wirte, die den Gerstensaft ausschenken. Solcherlei Auftraege wuenschen sich die Korschenbroicher mehr, doch dann wuerde sich auch rasch wieder die Frage einer Erweiterung des Betriebs stellen. Und fuer eine Liebhaberei der Geschaeftsinhaber bliebe dann gar keine Zeit mehr: fuer die Fertigung von Phantasiekostuemen, die jedermann fuer die tollen Tage ausleihen kann. Ob Biedermeier- oder Rokoko-Kostuem, Burgfraeulein-, Ritter- oder Indianer-Dress – in den Kleiderschraenken der Hintzen KG laesst sich herrlich stoebern. Wer die Narrenkleidung fuer ein Wochenende ausleihen moechte, zahlt 45 bis 90 DM, fuer die Karnevalstage (Samstag bis Dienstag) sind 60 bis 120 DM zu berappen, und wer sein Kostuem vom 11. 11. bis Aschermittwoch griffbereit haben will, ist mit 120 bis 250 DM dabei.