Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.02.1996, Nr. 42, S. 19

Wirtschaft

Das Unternehmergespräch

Gelegentlich rückt geschlossen ein Garderegiment an

Mit Helmut Hintzen, dem Geschäftsführer der Schneiderei Karl Hintzen KG, sprach Werner Sturbeck

In dem schlichten roten Ziegelhaus aus dem späten neunzehnten Jahrhundert geben sich Könige und Prinzen die Klinke in die Hand. Hier im niederrheinischen Korschenbroich arbeitet die Firma Karl Hintzen. Auch hochdekorierte Offiziere zählen zu ihren Stammkunden, und gelegentlich rückt geschlossen ein Reitercorps oder Garderegiment an. Hintzen ist eine Firma, die Illusionen verkauft. Aber anders als in Hans Christian Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern werden in der Maßschneiderei erstklassige Stoffe und Materialien verarbeitet. Die für Uniformen verwendete Schurwolle stammt überwiegend aus den nur noch wenigen Webereien des Umlandes. Spitzenkräfte fertigen mit Nadel und Maschine Uniformen, Roben und Kostüme für den Verkauf oder den Verleih. Was 30 meist weibliche Mitarbeiter unter den kritischen Augen von Geschäftsführer Helmut Hintzen, zwei Schneidermeistern und einer Meisterin auf Paßform bringen und mit Tressen, Litzen oder Bordüren versehen, findet vor allem in den Hochburgen des rheinischen Karnevals und unter den Schützen der Region seine Liebhaber.

Die Kundenkartei enthält aber auch Adressen meist deutschstämmiger Vereine in Europa, Amerika oder Südafrika. In Korschenbroich genähte Uniformen werden in Norddeutschland ebenso getragen wie südlich des Mains. Auch wenn nichtrheinische Kunden eher die Ausnahme sind, geben sie doch Einblick in die Unterschiede der menschlichen Natur. Ein süddeutscher Schütze präsentiert sich nur in eigener Uniform, so sehr der Zahn der Zeit auch daran genagt haben mag. Für den Rheinländer dagegen ist ein makelloser Auftritt in neuem Gewand weit wichtiger als die Eigentumsfrage, berichtet der Geschäftsführer.

Das Bewußtsein für historische Ereignisse spürt Hintzen noch am ehesten bei jenen, die sich für ein Ritterturnier oder einen mittelalterlichen Jahrmarkt die adäquate Montur nähen lassen. Karnevalisten pflegen dagegen eher die Tradition ihrer eigenen Vereine mit strengen Regeln der Hierarchie und Kleiderordnung. Hintzen zeigt das etwa 3000 DM teure, maßgeschneiderte Kostüm des Prinzen einer rheinischen Metropole, ein reich mit roten Bordüren und goldenen Stickereien abgesetztes weißseidenes Gewand. Bei der textilen Prachtentfaltung werden aber selbst den Tollitäten von ihren Vereinen enge Grenzen gesetzt. Deshalb werden die Effekten, jenes Gehänge und Gepränge, das die Uniform erst richtig schmuck macht, von einigen Organisationen sogar geschlossen eingekauft, damit kein Mitglied aus der Reihe tanzen kann, berichtet Hintzen.

Ohne die Lust der Narren an der Verkleidung wäre die Firma eine einfache Schneiderei geblieben, wie sie der Urgroßvater Philipp vor 112 Jahren gegründet hatte. Dessen Sohn Karl, der Namensgeber des Familienunternehmens, hatte die richtige Nase für ein zukunftsträchtiges Geschäft, als er nach dem Ersten Weltkrieg verarmten Offizieren Uniformen, Helme, Waffen und Orden abkaufte und damit einen Kostümverleih startete. Aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte die Spezialisierung der Schneiderei auf Uniformen und Kostüme. Der Verleih-Fundus umfaßt heute mehr als 4000 Kostüme und ist der sichtbare Beweis fleißiger Arbeit: „Wir sind froh, wenn die Werkstatt in der Woche 20 Uniformen schneidert.“ Aufwendiger noch ist die Arbeit an den Roben nach Vorlagen aus Mittelalter, Rokoko oder Biedermeier. Zu diesem Zweck werden Hunderte von Nachschlagewerken vorgehalten, nach deren Vorbild Stickereien, Bänder und Epauletten akribisch auf Gewänder, Uniformen oder Fahnen übertragen werden.

Die Werkstatt ist das Herzstück, aber auch das Sorgenkind des Unternehmens. „Wir wissen, daß wir zu teuer schneidern. Aber Lohnarbeit in Billiglohnländern ist keine Alternative“, sagt Hintzen. Die Kunden wollen meist mehrere Anproben und haben dann immer wieder neue Ideen. Wenn der Karneval seinem Höhepunkt zusteuert, wird alles unter großem Zeitdruck erledigt. Das lasse sich auf die Schnelle mit einer polnischen Schneiderei zum Beispiel kaum bewerkstelligen.

So liebevoll die beiden Firmeninhaber für eine Welt der Maskerade und des Scheins arbeiten, so fest stehen sie selbst auf dem Boden der wirtschaftlichen Realität: Mobiltelefone und eine 100000 DM teure elektronische Datenverarbeitung mit vernetzten Personal Computern gehören heute wie selbstverständlich zur Betriebsausstattung. Beim Maschinenpark folgt man der Maxime: aus Kostengründen so industriell wie möglich, aus Gründen der Qualität so handwerklich wie nötig. Bei zig Auftritten in einer Saison legen die Oberjecken nicht nur auf Aussehen, sondern auch auf Strapazierbarkeit ihrer Kleidung wert. Denn wenn beim hundertsten armausgreifenden Helau die Naht reißt, läßt der Narr die nächste Uniform vielleicht bei der Konkurrenz schneidern. Und Wettbewerber gibt es einige landauf, landab. Allein im Umkreis von 20 Kilometern zählt Hintzen drei. Aber so groß wie sein Unternehmen sind nur wenige, und kaum ein Betrieb arbeitet mit fester Belegschaft über das ganze Jahr. Für die Hintzens aber ist eine kontinuierliche Beschäftigung ihrer Mitarbeiter ein hohes Ziel, das auch der Qualitätssicherung dient. Nicht Expansion, sondern Gewinnoptimierung lautet die Firmenphilosophie. Ein kräftiger Umsatzausbau wäre nur mit Aushilfskräften in Saisonspitzen möglich; das aber wollen die beiden Inhaber nicht.

Am Aschermittwoch werden die Geschäfte mau bis in das Frühjahr hinein. Die Näherinnen, Stickerinnen und die im Verleih Beschäftigten feiern erst einmal die seit Januar erarbeiteten zwei Wochen Überstunden ab. Nur für die Meister und den Techniker beginnt schon die nächste Karnevalsaison. Anproben für Prinzen und Dreigestirne der Regentschaft 1996/ 97 haben bereits stattgefunden; diese Kostüme werden von April an ausgeliefert. Sogar Tollitäten der Session 1997/98 lassen in den nächsten Monaten Maß nehmen. Bis April werden die zurückgegebenen Kostüme wieder auf Vordermann gebracht; danach prägen die Schützenfeste bis tief in den Herbst hinein das Geschäft. „Auch wenn der Karneval den Terminkalender des gesamten Jahres bestimmt, sind die Schützen für uns der wichtige Ausgleich, ohne den wir unseren Mitarbeiterstamm nicht halten könnten“, erklärt der Geschäftsführer.

Das Geschäft ist ziemlich krisenfest. In der fünften Jahreszeit sparen Karnevalisten auch bei einer schwachen Konsumgüterkonjunktur nicht. Eher spürt man Bedarfsschwankungen. Mal gibt es Jahre, in denen mehrere Vereine ihre Kostüme für einige 10000 DM komplett neu ordern, mal nicht. Knapp die Hälfte des 1995 deutlich mehr als drei Millionen DM betragenden Umsatzes erzielt die Schneiderei. Der Handel mit Strümpfen, Schuhen, Hüten, Federgarnituren oder Effekten bringt rund eine Million DM und subventioniert die Schneiderei. Aber „keine Schneiderei, kein Handel“ stellt Hintzen fest. Ziel der Geschäftsleitung ist es, vor allem die Arbeitsabläufe in der Werkstatt zu optimieren. „Was soll man jedoch machen, wenn ein Wichtigtuer bei der Anprobe vom Meister umtüddelt werden will und dadurch ein Teil der Werkstatt nicht weiterkommt?“ Bei Hintzen ist eben jeder Kunde König.

Kastentext:

Zur Person Narren und Jecken sind für Helmut Hintzen seit bald zwanzig Jahren ernste Geschäftspartner. Der Rheinländer, Jahrgang 1956, betreibt gemeinsam mit dem drei Jahre jüngeren Vetter Thomas am Geburtsort Korschenbroich eine Uniformschneiderei mit Kostümverleih. Nach Fachabitur und Schnupperjahr in Textilfirmen nicht das angestrebte Textilwirtschafts-Studium, sondern in den 1884 gegründeten Familienbetrieb eingetreten. Der Vater von vier Kindern verwaltet neben dem handwerklichen Erbe seiner Altvorderen auch einen Fundus historischer Uniformen und Waffen. Des Großvaters Sammlerleidenschaft hat er allerdings nicht geerbt. Fühlte er sich als Narr, wären die Inhalte seiner Arbeit auch sein Hobby.

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